Die Zukunft der europäischen Wirtschaft in der sich wandelnden geopolitischen Landschaft
In diesem Webinar gibt Jim O’Neill, ehemaliger Handelsminister im britischen Wirtschafts- und Finanzministerium, Einblicke in aktuelle Veränderungen der geopolitischen Landschaft und deren Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft.
Hier können Sie sich die Aufzeichnung des Webinars ansehen. Folgende Themen wurden behandelt:
Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Eurozone
Ernährung, Sicherheit, Öl und die neue Weltordnung
Die Energieabhängigkeit Europas
Europäische Marktpreise und Inflation
Russland und die BRICS-Staaten
Schon vor dem Ausbruch des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine bestanden nach Ansicht von Jim O’Neill Unsicherheiten im Hinblick auf viele Marktthemen. Dadurch wird es in diesem Jahr äusserst schwierig, an den Märkten den richtigen Kurs zu steuern. Seit der Invasion der Ukraine durch Russland Ende Februar 2022 wird der ohnehin schon komplexe Anlagesektor durch ein neues Mass an Komplexität belastet.
Im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Staatenvereinigung BRICS vor 20 Jahren entwickelte sich die Wirtschaft in Brasilien und Russland sehr gut, im zweiten Jahrzehnt hingegen hatten beide Länder mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine Gemeinsamkeit dieser beiden riesigen, geografisch weit voneinander entfernten Länder besteht darin, dass ihre sehr grossen Bevölkerungen zu stark von Rohstoffen abhängig sind. Während eines Aufschwungs im Rohstoffzyklus entwickeln sie sich recht gut, sind aber äusserst anfällig, wenn die Rohstoffpreise fallen. Daran wird deutlich, dass in Russland wie in Brasilien Reformbedarf besteht.
China hat seine eigenen Herausforderungen, entwickelt sich aber dennoch meist besser als angenommen. Indien befindet sich auf einem guten Kurs. Auf die Frage nach der anhaltend engen Zusammenarbeit Chinas mit Russland antwortet Jim O’Neill:
«Ich vermute, dass die Chinesen insgeheim wütend auf Putin sind, ... sie kennen das Ausmass der Sanktionen, die der Westen zu ergreifen bereit ist. Wenn Chinas Devisenreserven eingefroren würden, wären die Folgen für China ebenso verheerend, es sei denn, Peking triebe seine Finanzsektorreform voran und sorgte ernsthaft für mehr Wachstum und eine stärkere Nutzung des Renminbi.»
Er fügt hinzu, dass der einzige Grund für die Freundschaft zwischen China und Russland die Abneigung beider Länder gegen die Vorherrschaft der USA in der Welt sei.
Die potenzielle Rolle Europas
Im Hinblick auf die Geopolitik und das Zusammenspiel der Märkte besteht nach Jim O’Neill ein faszinierender Aspekt darin, die Reaktion der Politik vorwegzunehmen, was insbesondere für die Makromärkte äusserst wichtig ist. Er sagt:
«Ich wette, Putin hat nicht damit gerechnet, dass die Deutschen so handeln, wie sie es getan haben, insbesondere auch weil gerade zu diesem Zeitpunkt eine von der SPD geführte Koalition an der Regierung ist ... Dies könnte der Beginn eines viel freundlicheren, aber nach aussen blickenden Deutschlands sein. »
Die Massnahmen Deutschlands in der anhaltenden kriegsbedingten Krise könnten O’Neill zufolge in der Zukunft drei wichtige Folgen haben:
Wiederherstellung der engen Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich in ihrem ganzen Ausmass
Abkehr der deutschen Regierung von einer sehr konservativen finanzpolitischen Haltung
Starkes Bewusstsein für den Wert der NATO
Durch die Pandemie ist das Risiko einer starken internationalen Abhängigkeit im Bereich der Lieferketten klar zutage getreten, und die Invasion der Ukraine durch Russland verdeutlicht, welche Folgen damit insbesondere im Energiesektor einhergehen können. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass immer mehr Länder versuchen könnten, Geschäftsprozesse zurück ins Inland zu verlagern, doch Jim O’Neill zufolge sprechen mehrere Gründe gegen die vereinfachende Vorstellung einer Deglobalisierung. So ist es beispielsweise nicht möglich, nach Belieben von einer Energiequelle auf eine andere umzusteigen. Deutschland und die meisten anderen europäischen Länder müssten überdenken, inwieweit sie sich auf Kernkraft oder sogenannte «alternative Energien» einlassen wollen. Unter Verweis auf die Entwicklung der COVID-19-Impfstoffe als Beispiel für eine äusserst dynamische weltweite Zusammenarbeit erklärt O’Neill:
«Letztendlich wollen Konsumentinnen und Konsumenten Zugang zu den besten Produkten haben, und das zu erschwinglichen Preisen. Wenn sie dafür bis ans andere Ende der Welt reisen müssen, dann tun sie das ... Bedürfnisse schaffen Notwendigkeiten.»
Die Beziehungen zwischen den USA und Europa
Inmitten der Schwierigkeiten mit der Finanzpolitik im Inneren der USA in seinem ersten Amtsjahr scheint US-Präsident Joe Biden plötzlich die Position der USA in der Ukraine-Krise direkt gesteuert zu haben, bemerkt Jim O’Neill. Er lobt die USA für die Wiederbelebung der Beziehungen zwischen den USA und Europa, die unter der Regierung Trump ernsthaft geschädigt worden waren.
Ausblick
Aus einer akademischen konzeptionellen Perspektive heraus urteilt O’Neill, dass Deutschland als Ankerwirtschaft der Eurozone sich im Wesentlichen geweigert hat, eine aktive Binnennachfragepolitik zu betreiben. Dadurch ist ein Grossteil des europäischen Wachstumszyklus nun vorwiegend von den USA und China abhängig. Seiner Meinung nach könnten die aktuellen Ereignisse jedoch dazu führen, dass Deutschland eine aktivere Wirtschafts- und Sicherheitspolitik betreibt, die potenziell die Grundlage einer soliden Währung bilden und in der Zukunft Möglichkeiten zu einer echten paneuropäischen Bindung eröffnet.
Darüber hinaus ist es nach O’Neill denkbar, dass die Art und Weise, wie neue Mitglieder in die EU oder NATO aufgenommen werden, überdacht wird, anstatt dass der Westen wie bisher einfach Länder zum Beitritt einlädt.
Trotz des unerwarteten massiven Schocks, den die Invasion der Ukraine durch Russland auf die Märkte auslöste, hält Jim O’Neill es für einigermassen «normal», dass die Märkte dramatischen Schwankungen unterliegen. Abgesehen von einigen isolierten Verwerfungen erkennt er keine grösseren Veränderungen. Er geht davon aus, dass die Inflation in der 2. Jahreshälfte 2022 sinken könnte, wobei die aktuellen Inflationsängste schon vor der Invasion bestanden, wegen der technischen Art und Weise, in der die Konsumentenpreisindizes berechnet werden. Wenn die Zentralbanken die Inflation nicht mehr nur als vorübergehend betrachten, sondern vollumfänglich davon überzeugt sind, dass sie dauerhaft ist, würde es in den nächsten 18 Monaten zu einer Rezession kommen, bemerkt O’Neill. Er glaubt jedoch nicht, dass die politischen Entscheidungsträger dieselbe ideologische Haltung vertreten und wie in früher Jahren irrational handeln.
Botschaft an Anlegerinnen und Anleger
Jim O’Neill schliesst das Webinar mit einigen persönlichen Empfehlungen zum Krisenmanagement für Portfolios und die Vermögensallokation ab:
Bewertungen müssen berücksichtigt werden, auch wenn sie nicht die einzige Entscheidungsgrundlage für Anlagen bilden sollten.
Diversifizierung ist wichtig, um Vermögen langfristig zu erhalten und zu mehren.
In entscheidenden Momenten müssen Anlegerinnen und Anleger flexibel sein und entschlossen handeln – sie dürfen sich aber nicht von Gier verleiten lassen.
Terence James O’Neill, Baron O’Neill of Gatley, ist ein britischer Wirtschaftswissenschaftler. Er ist dafür bekannt, das Akronym BRIC(S) für Brasilien, Russland, Indien und China geprägt zu haben, wobei später noch Südafrika hinzukam. Aktuell ist er Vorsitzender des Council of Chatham House, dem Royal Institute of International Affairs. Er ist Honorarprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Manchester und ehemaliger Präsident von Goldman Sachs Asset Management.
Das Webinar fand am 16. März 2022 in Zusammenarbeit mit The Family Office Bsc (c) statt und wurde von Naji Nehme, Chief Investment Officer bei Petiole Asset Management AG, moderiert.
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